Ein Totgesagter meldet sich zurück
Bastian Sick ist in seiner Funktion als Sprachnörgler nicht der erste, der den Rückgang des Genitivs verkündet. Ludwig Reiners rief bereits Anfang der 1960er Jahre dazu auf, dem Genitiv ein sprachökologisches Biotop einzurichten („Rettet den Genitiv!“) und seitdem vernimmt man immer wieder Klagen über den Verlust des Genitivs.
Steht es um den Genitiv tatsächlich so schlecht?
Nein. Er ist wohl eher eines der prominentesten Vorzeigeobjekte (neben Konjunktiv und Anglizismen) "radikaler" Sprachverfallsgruppierungen. Bei undifferenzierter Betrachtung kann durchaus der Eindruck entstehen, dass der Genitiv zurückgeht. Wenn man aber alle Funktionen des Genitivs im Blick behält, ergibt sich folgendes Bild:
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Zunahme des Genitivs im Nominalstil: Genitivkonstruktionen erleben derzeit im Nominalstil eine Hochkonjunktur. Wenn viel Information in komprimierter Form geboten werden soll, wird sehr häufig auf den Genitiv zurückgegriffen (z.B. „die Ursachen des Unfalls der Reisegruppe“, „die Notwendigkeit der Veränderung des Titels der Dissertation“ usw.)
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Gleichbleibende Verwendung des Genitivs: Feste Wendungen mit dem Genitiv (z.B. sich eines Besseren besinnen, seines Amtes walten, jeder Beschreibung spotten usw.) halten sich genauso im Sprachgebrauch wie genitivische Adverbialbestimmungen (z.B. eines Tages, eines Morgens, unverrichteter Dinge usw.).
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Abnahme des Objektgenitivs: Die Zahl der Verben, die als einzige Ergänzung ein Genitivobjekt fordern (z.B. bedürfen, erinnern, gedenken, sich rühmen, sich vergewissern, harren, sich annehmen usw.) nimmt nicht erst jetzt, sondern seit Jahrhunderten ab.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Genitiv zwar Terrain an Präpositional- und Dativobjekte verliert, auf der anderen Seite aber starke Zunahmen in Substantivgruppen verzeichnet.
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